Fact-Check: Hintergründe zum Stadtgespräch "Lass uns reden" in der Dortmunder Nordstadt

Der Faktencheck zum NRWision-Stadtgespräch in der Dortmunder Nordstadt

Fact-Check: Hintergründe zu "Lass uns reden" in der Dortmunder Nordstadt

Ob zu der Situation der Schulen, zum Bürgergeld, oder zu Geflüchteten: Bei "Lass uns reden" wurde in der Dortmunder Nordstadt viel diskutiert. Dabei sind Behauptungen aufgekommen, die live nicht überprüft werden konnten. Die Fakten zu den Äußerungen haben wir in dieser Übersicht zusammengestellt. 

Von Yvonne Blaschke 

Frage 1: Werden an Schulen mehr Sozialarbeiter*innen gebraucht?

00:05:05  Ein Mann im Publikum ist der Meinung, dass an den Schulen mehr soziale Arbeit benötigt wird.

In Deutschland kommen auf eine einzige Schulsozialarbeiterin jeweils etwa 5.400 Schüler*innen, in NRW sieht die Lage mit 5.200 Schüler*innen pro Sozialarbeiter*in nicht viel besser aus (Quelle: BDP). 

Sozialarbeiter*innen unterstützen und beraten Schüler*innen bei allem, was mit der Schule zu tun hat, und sind zum Beispiel auch als Ansprechpersonen gefragt, wenn es um die persönliche und soziale Entwicklung geht (Ministerium für Schule und Bildung NRW). Schulen in Gebieten wie der Dortmunder Nordstadt könnten einen erhöhten Bedarf an diesem Angebot haben, da dort viele sozial benachteiligte Kinder zusammenkommen. Das Präventionsradar der DAK hat für das Schuljahr 2022/2023 festgestellt, dass Schüler*innen, die ihren Sozialstatus als niedrig einstufen, häufiger bestimmte Probleme erleben. Beispielsweise erleben die Hälfte von ihnen moderate bis ausgeprägte Einsamkeit (bei Schüler*innen mit hohem Sozialstatus nur 28 %), und nur etwas über die Hälfte (57 %) gibt an, sich in der Schule wohlzufühlen (bei Schüler*innen mit hohem Sozialstatus 77 %). Generell zufrieden ist nur etwa jede vierte Schülerin (ca. 26 %) mit niedrigem Sozialstatus, bei Schüler*innen mit hohem Sozialstatus jede zweite (ca. 55 %). 

Man kann also vermuten, dass an Schulen, an denen es viele Schüler*innen mit niedrigem Sozialstatus gibt, die Notwendigkeit von Sozialarbeiter*innen höher ist.

Frage 2: Bekommen Schüler*innen mit Migrationshintergrund häufiger keinen Schulabschluss?

00:08:05 Direktor Bernd Bruns der Anne-Frank-Gesamtschule in Dortmund sagt, dass 2017 viele Schüler*innen ohne Schulabschluss von der Schule abgegangen sind.  

Der Anteil an Menschen ohne Schulabschluss liegt in Deutschland im Jahr 2022 bei etwa 5,1 % (Schüler*innen, die noch zur Schule gehen, ausgeschlossen). Unter Menschen mit Migrationshintergrund liegt der Anteil mit etwa 14,7 % deutlich höher (Quelle: Destatis).

Diese Zahlen betreffen jedoch die komplette Bevölkerung - also auch Menschen, die erst als Erwachsene nach Deutschland gekommen sind. Damit lässt sich keine Aussage über die Zahl der Schulabgänger*innen treffen, die aktuell keinen Schulabschluss bekommen. 

Laut einer anderen Studie von Destatis sind im Abschlussjahr 2022 15 % aller ausländischen Schüler*innen, die die Schule in diesem Jahr beendet haben, ohne Abschluss von der Schule gegangen (bei den deutschen Schüler*innen lag der Anteil 5,2 %) und nur 15,4 % mit einer (Fach-)Hochschulreife (von den deutschen Schüler*innen 41,7 %). Allerdings beachtet die Studie Schüler*innen mit Migrationshintergrund nicht, sondern nur "ausländische Schüler*innen". Das Bundesministerium des Innern und für Heimat definiert "Ausländer" folgendermaßen: "Ausländer ist jeder, der nicht Deutscher im Sinne von Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ist, d. h. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt."

Frage 3: Wie entwickelt sich die Zahl ausländischer Arbeitskräfte über die Zeit?

00:49:55 – Eine Frau aus dem Publikum erzählt, dass zu Beginn ihrer Ausbildung nicht viele Frauen mit ausländischer Herkunft in Deutschland gearbeitet haben. 

Die Arbeitslosenquote von Ausländern liegt in den Jahren von 2008 und 2023 durchschnittlich bei etwa 14,6 %. Bis 2019 war sie leicht fallend, in 2020 ist sie mit fast zwei Prozentpunkten stark gestiegen und liegt im Jahr 2023 bei 15,2 %. Die höchste Arbeitslosenquote bei Ausländern lag im Jahr 2009 bei 16,8 % (Bundesagentur für Arbeit).

Allerdings steigt trotz in etwa gleichbleibender Arbeitslosenquote die absolute Anzahl an Ausländern in Berufen:

Von 2012 bis 2022 verdoppelte sich die Zahl an Beschäftigten, generell ist die Tendenz steigend. Allerdings ist die Verteilung in verschiedenen Berufsgruppen sehr unterschiedlich. 2022 waren insgesamt 14,5 % der Beschäftigten in Deutschland ausländische Arbeitskräfte. Dabei ist die Quote in Reinigungsberufen mit 39,8 % am größten, ebenfalls in der Lebensmittelherstellung mit 36,8 %. Die kleinste Ausländerquote haben Berufe in Recht und Verwaltung mit 3,2 %, und auch in Finanzdienstleistungen (Rechnungswesen, Steuerberatung) sind mit 4,9 % wenige Ausländer vertreten (Quelle: Bundesagentur für Arbeit).

Frage 4: Wie ist die Unterbringungssituation von Asylsuchenden in Deutschland?

01:08:10  Fatma Karacakurtoğlu von "Train of Hope Dortmund e. V." spricht von "gefängnisähnlichen Unterbringungsmöglichkeiten" für Geflüchtete, in denen sie über Monate bleiben müssten.  

Die tatsächliche Situation in den Unterbringungen für Geflüchtete ist nicht eindeutig. Eine Studie vom Mediendienst Integration zeigt, dass es starke Unterschiede in der Qualität der Unterbringungen gibt: "Einfache, aber freundlich gestaltete Neubauten mit Garten und Spielgeräten für Kinder, Kochmöglichkeiten in einer abgeschlossenen Wohneinheit und guter Verkehrsanbindung sind ebenso zu finden wie heruntergekommene Gebäude in Ortsrandlage, in denen sich Menschen ohne familiäre Beziehungen zueinander Vier- oder Fünfbett-Zimmer teilen müssen."

Ein Kritikpunkt ist, dass Nordrhein-Westfalen wie viele Bundesländer keine gesetzlichen Mindeststandards für die Unterbringung von Geflüchteten hat. Ein weiteres Problem ist, dass Menschen, deren Asylantrag schon zugelassen wurde, zwar nicht mehr in den Unterbringungen bleiben müssen, aber häufig Schwierigkeiten haben, eine eigene Wohnung zu finden.

Frage 5: Müsste das Bürgergeld höher sein?

01:28:05  Ein Mann findet, dass das Bürgergeld zu niedrig sei, und bezieht sich auf eine Forderung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. 

Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hält im Jahr 2024 eine Anhebung auf 813 Euro als Regelsatz für alleinstehende Erwachsene für angemessen (der tatsächliche Regelsatz liegt bei 563 Euro). Die Berechnungsmethode des Wohlfahrtsverbands ist dieselbe, die auch offiziell genutzt wird. Die unterschiedlichen Beträge kommen zustande, weil der Paritätische die Finanzierung von Ausgaben in Bereichen für notwendig hält, die in der Berechnung der Bundesregierung nicht berücksichtigt werden.

Es kommt also darauf an, aus welchem Standpunkt man argumentiert – in den Bereichen Nahrungsmittel, Haushaltsgeräte und Bekleidung beispielsweise ähneln die geforderten Beträge des Paritätischen der Summe, die die Bundesregierung festgelegt hat. Im Bereich "Wohnen, Energie, Instandhaltung" sieht die Bundesregierung sogar mehr vor, als der Paritätische fordert. Allerdings fällt der Bereich Freizeit sparsamer aus, genauso wie Verkehr. Somit ist die Frage weniger, ob das Bürgergeld "reicht", sondern zunächst, welcher Lebensstandard einem Bürgergeld-Beziehenden zugestanden wird.

Frage 6: Wird das Bürgergeld oft vollständig gekürzt?

01:48:10  Fatma Karacakurtoğlu von "Train of Hope Dortmund e. V." sagt, dass es beim Bürgergeld die Möglichkeit der 100-prozentigen Kürzung gibt und diese auch angewendet wird. 

Solange Anspruch auf Bürgergeld besteht, kann das Bürgergeld langfristig nicht vollständig gekürzt werden. Seit 2024 kann es allerdings zeitweise komplett gestrichen werden: Wenn die Aufnahme einer "zumutbaren Arbeit" "beharrlich" verweigert wird, kann das Jobcenter das Bürgergeld maximal zwei Monate lang ganz kürzen (Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung). Danach muss es allerdings wieder gezahlt werden. 

Andere Kürzungen sind schon seit Einführung des Bürgergeldes möglich: Wenn eine Pflicht verletzt wird, man also zum Beispiel nicht zu einem Termin beim Jobcenter erscheint oder ein zumutbares Arbeitsangebot ablehnt, wird das Bürgergeld für einen Monat um zehn Prozent gemindert. Wenn das nochmal passiert, sind es 20 Prozent für zwei Monate, und bei einem dritten Mal 30 Prozent für drei Monate. Eine höhere Sanktion ist nicht möglich, und die Kosten für Unterkunft und Heizung bleiben immer gedeckt. 

Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung schreibt: "Es wird immer genau geprüft, in welchem Fall eine Leistungsminderung gerechtfertigt ist, besondere Härten müssen berücksichtigt werden. Die Kosten der Unterkunft und Heizung bleiben geschützt. Junge Menschen erhalten im Falle einer Leistungsminderung ein Beratungsangebot und müssen nicht mehr mit höheren Leistungsminderungen rechnen." Offizielle Angaben dazu, wie oft Leistungsminderungen schon vorgekommen sind oder wie häufig die neue Regelung einer kompletten Kürzung angewendet wurde, gibt es zurzeit nicht – seit Ende Dezember kursiert allerdings die Zahl 23.400, das soll die absolute Anzahl der 3,9 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Beziehenden sein, die schon mal mit Leistungsminderungen konfrontiert wurden. Zuerst tauchte die Zahl bei buergergeld.org auf, eine Quelle ist nicht angegeben.

Frage 7: Wie reich sind die Reichsten in Deutschland?

01:55:20  Ein Mann aus dem Publikum findet, dass Leute, "die in Geld baden", mehr Verantwortung bei den besprochenen Problemen übernehmen sollten, und sagt in diesem Zusammenhang, dass "rund 80 % des Vermögens im obersten Prozent der Gesellschaft gelandet ist".

Wie reich die reichsten 1 % der deutschen Bevölkerung sind, dazu gibt es keine konkrete Zahl – meistens wird gerade das Vermögen der reichsten Bürger*innen unterschätzt, da das tatsächliche Vermögen offiziell nicht erhoben wird. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat 2014 eine Schätzung durchgeführt, in der zusätzliche Informationen aus Reichenlisten mit eingerechnet wurden. Demnach besitzen die reichsten 1 % der Bevölkerung in Deutschland, das sind etwa 400.000 Haushalte, ein Drittel des gesamten Nettovermögens.

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